Demenz – Was bleibt von einem Leben ?

Auf einmal geht alles ganz schnell

Wer hätte das gedacht. Ich sicher nicht. Meine Mutter wohnt seit zehn Tagen in der Seniorenresidenz

Das letzte Lebenskapitel wurde aufgeschlagen

Heute besuchte ich meine Mutter in ihrem neuen Zuhause. Bisher ist sie davon ausgegangen, dass sie nur kurz dort einzieht. Doch die Gespräche mit den Pflegerinnen und dem Arzt zeigen ganz klar, ein neues Lebenskapitel, ihr letztes Lebenskapitel, hat begonnen.

Die Frau, die ich heute besuchte, ist eine andere,wie die, die ich gemeinsam mit meiner Tochter und meinem Sohn, sowie deren Lebenspartnern, vor wenigen Tagen dorthin gebracht haben. Nur mit einer kleinen List, war es meiner Tochter und mir gelungen, die alte Dame zu überreden. Als ich sie zwei Tage später besuchte, dachte ich, es geht dem Ende zu.

Samstagnachmittag. Ich betrete ihr Zimmer und sie räumt gerade ihren kleinen Tisch auf. Am Fenster steht ein Rollator und die kleine Frau ist munter. Im Gegensatz zur letzten Woche setzt sie sich an ihren Tisch und schaut zum Fernseher. Beim letzten Mal lag sie in viele Decken eingehüllt in ihrem Fernsehesessel und wirkte apatisch.

Eine Unterhaltung mir ihr zu führen, gleicht einem Ratequiz, dass habe ich schon bei unseren Telefonaten der letzten Tage gemerkt. Seit zwei Tagen darf sie ihr Zimmer verlassen, die Sicherheitsquarantäne für neue Bewohner ist vorbei. Wir schauen zusammen eine Serie und lachen über das was wir dort sehen. Zwischendurch ein paar Sätze, die neue Art von Gespräch. Ich sage ihr, dass sie nicht mehr zurück in ihre Wohnung kann und sie ist nicht erfreut. Etwas anderes draußen vor dem Fenster erregt ihre Aufmerksamkeit und wir wechseln das Thema. Sie erzählt, dass sie mit dem Rollator zum Fenster am Flur geht, dass sie mit den anderen Bewohnern in einem Raum isst und das ihr Zimmer schön warm ist. Auf meine Fragen, was ich ihr noch aus der Wohnung mitbringen soll, teilt sie mir mit, dass sie gar nichts brauche. Wir einigen uns auf ihr Fotoalbum mit den Wanderurlauben und alles andere soll „vernünftig“ bei mir eingelagert werden. Ich erzähle ihr nicht, dass ich dafür keinen Platz habe und auch nicht, dass ich ihre Wohnung kündigen werde und mit den Kindern, die Wohnung leer räume. In den nächsten Wochen wird noch das ein oder andere Teil seinen Weg zu ihr finden. So, wie das Bild meiner Eltern, dass ich ihr heute mitgebracht habe.

Für mich bleibt die Frage

Was bleibt von einem gelebten Leben ?

Ein Fotoalbum ? Erinnerungen die verblassen ? Erinnerungen die man mit niemanden teilen kann, weil die Menschen, die dir bleiben, sie nicht kennen ?

Es bleiben Kinder, die man mit großer Hoffnung in die Welt gesetzt hat, die man unendlich liebt, für die man tut, was man tun kann. Doch ob die Kinder das so sehen, wie man selber, bleibt abzuwarten. Im Falle meiner Mutter werde ich mit länger andauernder Pflege und Sorge nachgiebiger, versöhnlicher. Trotz der großen Distanz zwischen uns, berührt mich ihr letztes Lebenskapitel sehr. Jetzt sind wir nur noch zwei Menschen. Keine Vorwürfe mehr. Keine Wut. Kein Hass.

Als Mutter schaue ich auf meine vier Kinder und ihr Leben. Genau wie meine Mutter sage ich, das mich von ihnen niemand pflegen soll. Das ich in einer Seniorenresidenz leben möchte. Werde ich es vergessen ? Oder werde ich mich daran erinnern ? Werden sie, genau wie ich, auf den richtigen Zeitpunkt warten und hoffen ihn nicht zu verpassen ? Wie empathisch werden sie sein, wenn ich alt bin und in ihren Augen nicht mehr alleine leben kann ? Heute sprechen wir darüber ganz klar, denn ich bin berufstätig, erziehe ihre jüngste Schwester, kann mich trotz meiner körperlichen Einschränkungen gut um mich selber kümmern.

Von meiner Mutter bleiben mir viele Fotos mit ihren Freunden. Kaum Familienfotos. Von meinem Vater gibt es noch weniger, der mochte es nicht fotografiert zu werden. Von mir gibt es die auch nicht.

Meine Mutter war ein begeisterte Gärtnerin. Heute gibt es ihn nicht mehr. Verwelkt, vertrockent, unansehlich.

Was bleibt ist die Erinnerung und ein Bild

Fortsetzung folgt